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Theaterinszenierungen von Jo Fabian
Jo Fabian Department Theater Archiv
Victor nach Roger Vitrac
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Die starken Bilder im Kopf

Klar, man kann von einer Minute auf die andere verrückt werden. Der Surrealist Roger Vitrac nennt sein 1928 entstandenes Stück „Victor oder Die Kinder an der Macht“, eine Farce, die oft auch als Boulevard gespielt wurde. Doch in Kassel zur Premiere ist alles anders. Kassel hat den Regisseur Jo Fabian. Schon die ersten Minuten zeigen das ganze Konzept eines hoch begabten, konsequenten Bühnenkünstlers: Die schwarz gekleidete Festgesellschaft mit den Schirmen in der Hand umrandet zur donnernden Klang-Collage den Raum in strenger Choreografie auf schmalen Holzstegen. Dahinter weitet sich ein Seehimmel, und das Gewitter grollt. Ein Kronleuchter schwankt herab aus der Leere des Himmels, und irgendwo weint eine Geige. Victor, das einsame Kind, spielt mit einem silbernen Fisch und schaut in die Ferne, bevor er langsam den Musterknaben ablegt. Victor tut das fast nebenbei, wie ein Traumtänzer über dem Abgrund. (...) Durch die eindeutige Handschrift Jo Fabians (er gestaltete auch die Bühne und die Kostüme) entpuppt Roger Vitrac sich noch einmal als bissiger und witziger Moralist. „Schluss mit der Bourgeoisie“, ruft dann Victor, verzweifelt-mutig, „Schluss mit der Vorherrschaft des Geistes“. Vor langsam herabdimmendem Licht dreht sich die Wahnsinns-Spirale immer schneller, wenn das Warnsignal ertönt, verfällt die Gesellschaft aus der Bewegung heraus in eine totenähnliche Starre. Dann kommt die rothaarige Frau (Petra Förster) und zitiert poetisch-surrealistische Texte von Jo Fabian: Minuten des Aufatmens, bevor der Albtraum in die nächste Runde geht. Die mysteriöse Ida Totemar (Sabine Waibel) ruft mit ihrer exzessiven Toilettensitzung die Sintflut herbei. Im Hintergrund bläht das Schiff rettend seine roten Segel, und der Engel mit den schwarzen Flügeln wartet ab. Das Publikum aber hat die Bilder von Magritte und Delvaux längst im Kopf, auch wenn auf der Bühne Rammstein ertönt. Jo Fabians Bekenntnis als postsurrealer Künstler, seine virtuos ästhetische Bühnenarbeit hat Kassel einen innovativen Theaterabend geschenkt. Inhalt ist Form. Dem ordneten sich in diesem jede Minute überzeugenden Gesamtkunstwerk auch die Schauspieler unter: Mal gemeinsam einer strengen Bewegungschoreografie verpflichtet, mal Einzelverantwortung bei dem Improvisationsszenen tragend. Zum Schluss verbeugten sich zwölf Akteure in sich wiederholenden, streng ritualisierten Bewegungsabläufen. Die Theater-Reise durch das Jahrhundert, die der Kasseler Schauspielchef Martin Nimz angetreten hat, war bei 1928 angekommen und mit Jo Fabians Arbeit zur künstlerischen Herausforderung geworden. Das Publikum applaudierte euphorisch.
Juliane Sattler, Hessisch/Niedersächsische Allgemeine, 31. März 2003

Ich bin dagegen, ich bin dafür, ich bin beides!

Der neunte Geburtstag des bereits 1,81 m großen Victor endet in einem absurd-grotesken Alptraum. Die bourgoise Geburtstags- Gesellschaft der Erwachsenen wird von den infantilen Machtspielen des überaus intelligenten Victor beherrscht. Die sich steigernden Handlungen wie z.B. die ersten sexuellen Annäherungen an die 6-jährige Esther, das Geschenk eines Revolvers vom Onkel und letzendlich der Ehebruch der Eltern, treiben die Gesellschaft in den Wahnsinn. Victor, der 9jährige Erwachsene zappelt wie ein Fisch im Trockenen und fleht nach dem Verständnis des Vaters, der nicht mal den Namen des Sohnes kennt. (...) Sich auf den eigenen Intellekt zu verlassen, sollte bei diesem Stück vermieden werden. Die surrealistische Umsetzung von Roger Vitrac, die in der Tradition der Dadaisten steht, verlangt den freien Gebrauch des Geistes. Man hüte sich also, die Symbolik einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit als Realität anzunehmen. Jo Fabian, verantwortlich für Regie, Choreographie, Bühne, Kostüme und Musik knüpft an die Ästhetik der französischen Avantgarde an. Bühnenbild und Kostüme sind dramatisch, gewaltig imposant und farbenprächtig. Jo Fabian gelingt es, dem Rezipienten die Vorlage Vitracs Urfassung zu erschließen und greift dabei auf eine Führung des Zuschauers zurück, auf die jedoch normalerweise ein surrealistisches Konzept verzichtet. So stirbt am Ende ein kleines Kind nur zum Schein und bestätigt hier wieder die alte Surrealisten-Weisheit, dass wir als Zuschauer lieber fehl- als gar nicht interpretieren.
Tabea Blumenstein, FJ, 31.03.2003
Vom ersten bis zum letzten Vorhang beeindruckte ein imposantes, durchdachtes und wirkungsvolles Bühnenbild, gaben die Schauspieler und Musiker ohne Ausnahme ihr Bestes, wurden moderne Klänge – z.B. von Rammstein und Apocalyptica – problemlos eingearbeitet. Die Bühne wurde zum Schlachtfeld einer Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Revolution, Mann und Frau, Erwachsenen und Kindern – nie gab es Sieger oder Besiegte, immer bleiben Fragen. (...) Ein Theaterstück, dass die Sinne beeindruckt, den Geist anregt und den Zuschauer ganz allein bei sich selbst zurückläßt – zeitgemäß und doch getreu dem Alfred-Jarry-Theater, in dem das Stück uraufgeführt wurde und von dem sein Gründer Antonin Artaud behauptete: 'Wir wollen nichts an den Sitten der Menschen ändern, aber wir beabsichtigen, ihnen die Fragwürdigkeit ihres Denkens zu demonstrieren, ihnen deutlich zu machen, auf welch schwankendem Grund, über welchen Höhen sie ihre anfälligen Häuser erbaut haben.'
Martin Sehmisch, Freies Radio Kassel, 31.03.2003
Publikums-Reaktionen
(per eMail auf der Homepage des Staatstheaters Kassel)

Marita Gibb (31.03.2003): Gratulation! Fantastisches Stück - schwierig und bedrückend, aber sehr beeindruckend und bemerkenswert gut inszeniert. Weiter so!

Ksaschmidt@aol.com (31.03.2003): Ich habe selten so etwas Schönes und zugleich Erschreckendes gesehen. Dies ist eine hervorragende Inszenierung gespielt von hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern. Kassels Theater hat etwas Besonderes zu bieten. Auf zum Theatertreffen!!!!

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